Der entwendete Taler - Dramaturgische Überlegungen

1. Gold

Perutz lässt Erherzog Rudolf ein paar Jahre vor seiner Krönung zum römischen Kaiser und König von Böhmen einen Crashkurs in Gelddingen durchlaufen. Ein Taler, erfährt Rudolf, ist nicht gleich ein Taler. Der unrechtmässig angeeignete bringt dem Erzherzog Unglück, er muss ihn wieder loswerden und das ist gar nicht so leicht, denn er muss genau an die richtige Adresse, sonst gilt die Schuld nicht als getilgt. Auf diesem Weg folgt Rudolf dem rasenden Lauf des Talers. Die Bestimmung des Geldes scheint das Rollen zu sein, von einer Hand in die andere, von einer Tasche in die nächste. Bargeld ist neutral, passt in alle möglichen und unmöglichen Situationen, ist einmal teuer, einmal billig gegeben oder genommen, und je nachdem, in wessen Hände es gerät, ist sein Wert steigend oder fallend.

Dabei kommt es aber nicht auf die Dauer seines Verweilens in einer Manteltasche an, sondern auf die Absicht, die einer damit hat. Für die meisten Leute, denen Rudolf begegnet ist der Taler ein Durchlaufposten, der ebenso ausgegeben wie eingenommen wird.

Erst der kleine Meisl, der sich mit 2 Dickpfennigen das Recht erkauft, in alten Mänteln nach Schätzen zu suchen und auch einmal einen Taler zu finden, weiss den Taler in seinem wahren, abstrakten Wert zu schätzen: „Aus einem Schuh kann man nicht zwei machen und eine Mütze bleibt immer eine Mütze. Aber aus einem Taler können leicht ihrer zwei werden.“

Geld ist nicht nur ein Tauschobjekt für den Rest der Welt, sondern eine Welt für sich, wie heute angesichts der komplexen und von der Welt des Materials gänzlich abgehobenen Finanzwirtschaft jeder weiss oder zumindestens ahnt.

Dieser eine Taler, den Rudolf auf seinen Weg gebracht hat, wird der erste Taler sein, aus dem der junge Mordechai Meisl im Verlauf des Romans sein sprichwörtlich grosses Vermögen macht („Meisls Gut“ ist der Originaltitel des Romans), von dem auch der Erzherzog später als römischer Kaiser Rudolf II. profitieren wird.

Der Taler, in Rudolfs Händen wertlos, wird in den goldenen Händen des jungen Finanzgenies Meisl zum fruchtbaren Geld-Magneten -  vergleichbar mit dem legendären Kreuzer Nummer 1, der den Schatz von Dagobert Duck begründet (erstmals 1953 erwähnt - das Jahr der Fertigstellung von „Nachts unter der Steinernen Brücke“).

Später lässt Perutz Meisl über das Geld grübeln: „Sein Leben lang war das Gold hinter ihm hergelaufen, hatte ihn umbuhlt und umworben, war, wenn er es von sich stiess, wiedergekommen. Es bedrängte ihn, wollte sein eigen werden und keinem anderen dienen und war es sein eigen geworden, dann blieb es nicht in den Kästen und Truhen, dann lief es als sein Knecht für ihn durch die Welt.“

Geld will dahin, wo bereits Geld ist. Dann hat Meisl die Bargeldsphäre jedoch längst verlassen. Der Vorläufer des Papiergeldes ist der Schuldschein.

Der historische Mordechaj (Markus) ben Samuel Meisl, (1528 - 1601) um den sich viele Altprager Legenden spinnen, war allerdings nicht geizig wie Dagobert Duck, sondern Primas der Prager Jüdischen Gemeinde und ein grosszügiger Mäzen. Er stiftete zwei Synagogen, ein Spital, weiters Bade-, Armen- und Waisenhäuser, er liess die Strassen der Judenstadt auf eigene Kosten pflastern und gab Armen zinsenlose Darlehen. Das Vermögen des kinderlosen Meisl, der als Bankier des Kaisers und sogenannter Hofjude zu Lebzeiten viele Privilegien hatte, wurde jedoch nach seinem Tod vom Hof beschlagnahmt.

2. Der Wald - Freier Wille, Bestimmung, Zufall. Chaos ist komplexe Ordnung

Der Wald ist der Ort, in dem man sich im Märchen verirrt. Egal, in welche Richtung einer zieht, er gerät tiefer und tiefer hinein, es geht in allen Richtungen immer nur in dieselbe Richtung - hinein. Es wird dunkel, wild, finster, gefährlich und vor lauter Bäumen ist der Wald kaum noch zu begreifen - undurchdringlich, unbewohnbar und unüberwindbar. Doch in den Märchen ist der Wald, dieses von Bäumen, Moos und Tieren verkörperte Weltchaos, auch der Wohnort des Schicksals dessen, der sich hineinverirrt. Was aussieht wie Chaos und Zufall ist in Wahrheit nur eine höhere, dem Verirrten nur noch nicht begreifliche Ordnung. Denn dort wohnen - wie beim blonden Eckbert - Geister, die aus der Mitte des Chaos, als das dem Verirrten der Wald erscheint, den Weg zurück aus dem Chaos in ein höheres Verständnis weisen können.

Im Wald,  der Krise des Lebens, wird der Held geprüft, und er wird gewandelt, aus dem Chaos entsteht Ordnung, lässt sich Überblick und Durchblick verdienen - und der Weg in den Märchenwald und wieder heraus ist eine Initiation.

Aber auch der biologische Wald ist ein gutes Bild für die Geburt der Ordnung aus dem Chaos. Waldforscher wissen vom unendlich feinen und fragilen Zusammenspiel und dem ineinander vernetzten Lebensrhythmen der einzelnen Lebewesen im Wald. Von Chaos keine Spur, sondern vielmehr eine komplexere Ordnung als wir begreifen können.

Auch Perutz bedient sich der Metapher Wald, um den jungen Erzherzog auf seine Rolle als Kaiser vorzubereiten. Kronprinz Erzherzog Rudolf verirrt sich auf der Jagd im Wald zwischen den dunklen Bäumen in zunehmender Dämmerung, verliert die Orientierung. Zwei Riesen, vermutlich Abkömmlinge jener materialistischen Zwerge, die in vielen Sagenkreisen das Gold hüten, zeigen ihm den Weg zurück nach Schloss Benatek.

Doch bereits Rudolfs  Verlorengehen im Wald, die zufällige Begegnung mit den Geistern und ihren Goldhaufen ist mitnichten Zufall, sogar mit seinem spontaner trotziger Griff nach einer Goldmünze gehorcht er nur einem komplexen Plan. Bald danach begreift er, dass er selbst ein Spielball dieses Plans war, der ihn dazu bestimmte, die Münze, die er entwenden wollte, dadurch dem entgegenzutreiben, dem sie gehören sollte, dass auch er ein Teil der Welt ist, selbst wenn er bereits zum Herrschen auserkoren ist.

Wald, heisst es, ist mehr als ein Nebeneinander von Bäumen und Tieren - Wald ist die Wechselwirkung von diesen unterschiedlichen Lebewesen. Perutz stellt die Zusammenhänge von Bestimmung, Zufall und Freiem Willen ebenso als ein ineinandergreifendes Weltspiel dar.

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