Die Presse, Schaufenster, 03.11.2023, Daniela Tomasovsky (ÖGZM)

Alice wartet nicht auf Wunder (pdf)

Kristine Tornquist bringt "Alice im Wunderland" als vergnüglich-philosophische Ermächtigungsgeschichte auf die Opernbühne.

Wenn du nicht weißt, wo du hinwillst, ist es egal, welchen Weg du einschlägst", lautet ein weiser Ratschlag der Grinsekatze in "Alice im Wunderland". Auch der Herzkönig philosophiert:"Wenn kein Sinn darin steckt, erspart uns das jede Menge Mühe, nicht wahr, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen." Was Alice erlebt, ist eine Karikatur der Erwachsenenwelt: Ständig wollen die Großen recht haben und verstricken sich dabei in Widersprüche. Das kleine Mädchen wird hin- und hergebeutelt: Nichts, was sie tut, passt, sie wird ständig beurteilt und kritisiert. Erst am Schluss wehrt sie sich und durchschaut, was die Erwachsenen falsch machen.

Alice zum Vertrauen in sich selbst zu verhelfen, das will Regisseurin und Librettistin Kristine Tornquist in ihrer Lesart des Klassikers. Zärtlichkeit zu ihren Figuren ist ihr wichtig. Vor eineinhalb Jahren hat sie das Projekt gestartet, am 23. November feiert "Alice eine phantastische Revue" im Rahmen von Wien Modern seine Uraufführung.

"Es ist nicht nur ein schönes Märchen, sondern eine Geschichte, die dazu ermutigt, selbst zu denken", sagt sie. Tornquist, die gemeinsam mit ihrem Mann Jury Everhartz das sirene Operntheater leitet, wollte schon immer einmal mit dem Serapionstheater kooperieren. "Wir haben überlegt: Was interessiert beide Ensembles? Das Serapionstheater ist bekannt für starke Bilder, poetische Momente und Fantasie", so die Theatermacherin. "Alice im Wunderland" stand auf der Shortlist, als Kurt Schwertsik als Komponist zusagte, war klar: Das wird es! "Schwertsik hat eine große Liebe zu englischer Nonsens-Literatur," erzählt Tornquist. Dieser bestätigt: "Lewis Carroll als Verfasser der Lyrics zu haben war einer der Gründe, mich in diese Welt zu vertiefen: Die Gedichte aus den Alice-Erzählungen haben mich schon beschäftigt, als ich noch kaum Englisch verstand."

Die Zusammenarbeit mit Schwertsik, einem der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, empfand Tornquist als vergnüglich und harmonisch. "Wir haben täglich telefoniert und das Werk gemeinsam entwickelt. Kurt ist ein sehr jung gebliebener 88-Jähriger, er ist lustig und neugierig und auch schon auf der Bühne des Odeon herumgesprungen."

Der Kampf im Wunderland dreht sich um Schicklichkeit, die Waffe ist das Wort. Die berühmte blaue Raupe, die Herzkönigin, der zeitlose Hutmacher, die geschwätzigen Blumen und andere Figuren reißen im Wortwechsel mit Alice stets die Deutungshoheit an sich. Ihre Logik deckt sich zwar nicht mit dem Hausverstand, und sie haben auch nicht recht, dafür aber das Sagen und damit die Macht, Alice den wunderlichsten Benimmregeln zu unterwerfen Benimmregeln wie im viktorianischen England, unter denen Lewis Carroll zeitlebens litt. Doch über diesen gesellschaftskritischen Aspekt hinaus sind seine beiden Alice-Bücher das Werk eines begnadeten Spielers, der mit Logik und Unlogik jongliert und daraus den tiefsten Widersinn und das höchste Vergnügen destilliert.

Dementsprechend fröhlich ist auch die Oper angelegt: Es wimmelt von lustigen Choreografien, zwei Sängerinnen (Romana Amerling, Solmaaz Adeli) und vier Sänger (Armin Gramer, Gernot Heinrich, Andreas Jankowitsch, Steven Scheschareg) leihen den Figuren ihre Stimme, Ana Grigalashvili als Alice sowie die Tänzerinnen und Tänzer des Serapions-Ensembles sind deren Verkörperung.

Die Oper zeigt charakteristische Szenen aus Carrolls "Alices Adventures in Wonderland" und "Through the Looking-Glass, and What Alice Found There", das Libretto besteht ausschließlich aus englischem Originaltext. "Die Herausforderung war, eine Lesart zu finden, die das Ganze in einen Kontext stellt."

Die Rahmenhandlung der Oper zeigt nun die Beziehung des Autors zu seiner ersten Leserin der Titelfigur des Buchs. Alice Lideil, die Tochter des Dekans von dem College, an dem Carroll arbeitete, war das reale Alice-Vorbild. "Uns interessiert, wie der Autor seine Leserin manipuliert, wie er sie mit seiner Fantasie in die Enge treibt, wie er ihr zuletzt die Macht gibt, sich zwischen den erfundenen Figuren zu behaupten."

Fest steht: Lewis Carroll, der Autor, war ein hochintelligenter und verschrobener Sonderling, er stotterte und fand sich in der Welt der Erwachsenen nie so ganz zurecht. Mit einem Haufen Geschwister in eine Pfarrerfamilie hineingeboren, verbrachte er eine glückliche Kindheit nach der er sich auch in seinen Büchern sehnte. Immer wieder verbrüdert er sich literarisch mit den Kindern gegen die Erwachsenenwelt. "Ich bin nicht verrückt. Meine Realität ist einfach anders als deine", lässt er etwa den Hutmacher sagen.

Die Musik steht dem in nichts nach. "Sie ist sehr schön, witzig und knapp", sagt Tornquist. Obwohl 27 Musiker spielen, ist es kein sinfonischer Klang. "Die Musik bewegt sich in allen Genres. Von der Filmmusik bis zur Zirkuskapelle. Es sind viele witzige Miniaturen", so die Intendantin. Am Dirigentenpult steht Francois-Pierre Descamps, der u. a. Kapellmeister bei den Wiener Sängerknaben war und den schon eine langjährige Zusammenarbeit mit dem sirene Operntheater verbindet.

Die Vollendung zur theatralen Wunderbox geschieht in Zusammenarbeit mit dem Leiter des Serapionsensembles, Max Kaufmann, und der Bühnen- und Kostümbildnerin Mirjam Mercedes Salzer. Die Ausstattung ist fantastisch und zeitlos wie die Alice-Bücher und ebenso aus Papier!

Tipp: "ALICE EINE PHANTASTISCHE REVUE". Die Koproduktion von sirene Operntheater und Serapionstheater feiert bei Wien Modern am 23.11. Premiere und ist bis 31.12. im Odeon zu sehen.

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