Schutz

Die Dienstordnung wuchert aus zwei Richtungen, weil sie zwei komplementären Zwecken dienen muss. Einerseits müssen die Krankenpflegernnnie vor den Kranken geschützt werden, die sie schikanieren, versuchen zu demütigen, generell nerven. Viele von ihnen haben die blöde Angewohnheit, nicht etwa für die Hilfe in rosiger Dankbarkeit aufzugehen, sondern den ohnmächtigen Ärger über ihre Krankheit an ihnen ausleben. (Wahrscheinlich waren sie immer schon irgendwie so.)

Die Pflegernnnie brauchen also nicht nur Räume, in denen sie Ruhe vor den Patientennni haben, sondern auch gewisse Vollmachten, um zu drohen, gegebenenfalls auch zu strafen. Alles läuft besser, wenn Ruhe und Respekt herrscht. Wenn die Patientennni sich nicht gehen lassen, nehmen die Schwestern eher ernst, was sie sagen. Natürlich ist Angst im Spiel, zerbröckelnde Gehirne, nebst Wallungen und geradezu psycheledisch anschwellenden Zustände und Interoperzeptionen. Niemand lässt sich gerne sagen, dass er in Bezug auf seine Körperempfindung irrt. Eine solche Frechheit macht eine Schwester bald einmal zum Feind - auch oder gerade, wenn sie auch noch recht hat. Ohne sich das ausgesucht zu haben, sind die Schwestern im Bund mit der Realität, die den Patientennni in manchen Fällen wirklich zusetzt. Der Widerstand gegen das Sterben als Realität richtet sich gegen die Schwester als einziges Gesicht davon, das verwundbar erscheint.

Aber Schwestern irren mitunter auch, oder sind schlicht nicht da. Verwechseln die Patientennni. Vergessen auf eines ihrer tausenden Versprechen. Außerdem ist es bedrückend, diese Position nicht ausgesucht zu haben und nichts gegen den großen Boß, den Tod, ausrichten zu können In solchen Fällen kann der Ärger der Pflegernnnie über sich selbst an den Kranken ausgelebt werden. Ein Grund für das Ignorieren liegt nahe und wird angenommen, wenn man nichts dazusagt: man durchschaue die Bitte und weiß es besser. Man hat gute Gründe, sie nicht zu erhören. Die Verzweiflung über ein entschlossenes taubes Ohr kann zu wiederholten Quengeleien, ja Brüllanfällen führen. Insofern ist es wichtig, dass die Schwestern die Patientennni respektieren, sagt die Dienstordnung.

Niemand ist freiwillig hier.

Auch Hypochondrie ist eine ernstzunehmende Krankheit.

Ob aber dieses Gleichgewicht durch ein Netzwerk an Rechten, deren Nichteinhaltung eingeklagt werden kann, ist zweifelhaft. Das ist nur ein Spielfeld für Rache und zieht die Geschichten in die Länge und zementiert die Probleme. Viel aussichtsreicher erscheinen gemeinsame Rituale, die eine Grundlage bilden für das Zutrauen, die anderen würden die gemeinsam von unterschiedlicher Seite erlebten Probleme durchaus objektiv bemüht sein zu sehen, verurteilten nicht jede Subjektivität, wären bereit zur Nachdenklichkeit, einsichtswillig, und auch theoretisch interessiert. Das Interessante enthebt ja der Güte. Wenn sich jemand aus Neugier mit deinem Problem beschäftigt, weiß er es erstens nicht von vornherein besser und zweitens ist der Preis für diese Interaktion noch nicht festgelegt. Es gibt dann plötzlich kein Gefälle zwischen Experte und Opfer.

Am Beginn jeder Schicht sollen Patientennni und Krankenpflegernnnie daher gemeinsam die Hymne an den Schmerz singen, ein getragenes Geheul, bei dem der Text dem Geheul einen Sinn gibt.

Schmerz, Zeigerblume,
du Licht des Nordens
du machst die Münder flüssig
du machst das Blut in den Adern gefrieren
du machst Gehirne stocken
in Kürze entstehen Wunder
denn alles bleibt stehen

da (wo?) da
da (wo?) da
da da da du sprichst.

Da die Melodie sehr schwer zu singen ist, klingt sie jeden Morgen recht unterschiedlich. Die Patientennni können, ja müssen einander beim Einstudieren helfen. Über den ganzen Tag erklingen Fetzen des Liedes in gebrochenen, zarten, drahtgleichen Stimmchen. Das ist sehr rührend für das Krankenhaus.

Gewisse Floskeln gehören ebenfalls zum Standard der Ansprachen sowohl von Patientni zu Schwester als auch umgekehrt. Eine kleine Verbeugung, je nach Mobilität auch nur mit den Augen, eine übertriebene, aber schlichte Entschuldigung für die Störung der Gedanken ders anderen, dann, zurückhaltend vorgetragen, das Anliegen. Dier Pflegerni antwortet mit einer stehenden Wendung, bei der sier zutiefst bedauert, das existentielle Elend, in dem sie gemeinsam, dier Patientni allerdings gerade akuter steckt, nicht wesentlich lindern kann, dier Patientni soll aber tapfer bleiben, sier werde tun, was sier kann. Sollte eien Patientni doch rüpelhaft oder kindisch werden, so weist dier Pflegerni siehn zurecht mit der Ermahnung, sier solle froh sein, keien Pflegerni zu sein.

Am Abend singen hauptsächlich die Schwestern, und zwar in einem Raum, von dem aus der Schall sich fein, aber deutlich durch das ganze Haus zieht. Bei großen Häusern teilen die Schwestern sich in mehrere Räume auf, ein Kunststück des Chorgesangs, um das gesamte Gebäude zu beschallen. Das Stück leitet den Abend ein, segnet alle, beschwört die guten Geister der Heilung im Schlaf, und endet mit einem Call-and-Response-Gesang mit dem riesigen grauen Chor der Patientennni.

Ann Cotten