Musikleben (Muzlifemagazin), Zhenya Lianskaya-Lininger, 24.12.2020 (deutsch)

Die Oper ist eine Botschafterin der neuen Musik

Die Regisseurin und Librettistin Kristine Tornquist und der Dirigent und Komponist Jury Everhartz, Gründer des Wiener sirene Operntheaters, sprachen mit Evgeniia Lianskaya-Lininger über zweiundzwanzig Jahre Erfahrung mit zeitgenössischer Oper. In diesem Jahr haben die Organisatoren trotz mancher Schwierigkeiten von September bis November das Festival "Die Verbesserung der Welt" auf die Bühne gebracht.

EL: Während der zweiundzwanzig Jahre der Existenz des sirene Operntheaters haben Sie sich auf fast allen Ebenen des Musiktheaters versucht: Komponieren, Libretto schreiben, Dirigieren, Produzieren, Regie führen. Nur selbst auf die Bühne gegangen sind Sie scheinbar nicht. Ich frage nicht, was dabei das Schwierigste ist. Aber, was glauben Sie, worauf richtet sich die Aufmerksamkeit des Publikums heute vor allem, auf originelle Musik, auf Uraufführungen, ein aktuelles Thema, auf hervorragende Solisten, auf eine spannende Geschichte oder einen ungewöhnlichen Bühnenraum?

KT: Ich glaube, das Wichtigste ist die Geschichte. Aus demselben Grund, warum man ins Kino geht, kommt das Publikum in die Oper und will Geschichten mit einer nachvollziehbaren dramatischen Entwicklung, mit gutem Text, lebendigen Charakteren, mit denen es sich identifizieren kann. Meiner Meinung nach ist das das Wichtigste. Ohne gute Musik kommt natürlich auch keiner.

JE: Das Publikum interessiert zwei Dinge: Erstens, etwas zu erleben, das heisst, etwas Neues zu sehen. Zweitens möchte man das Erlebte nachher auch gut nacherzählen können.

EL: Sie geben Beide der Musik nicht den ersten Platz?

KT: Das ist nicht ganz richtig. Natürlich müssen alle Bestandteile einer Oper auf einem vergleichbaren Niveau sein, sonst ist es keine gute Oper. Die Musik spielt zweifelsohne eine wesentliche Rolle dabei, an sie werden die höchsten Anforderungen gestellt. Aber die grossen Opernhäuser fokussieren sich immer nur auf die Komponisten, die Librettisten sind nicht so wichtig. Das ist meiner Meinung nach ein grosser Fehler. Deshalb sind viele moderne Opern oft so langweilig. Und hier versuchen wir etwas zu ändern.

JE: Schwierig, das alles in der Oper tatsächlich in eine Reihenfolge zu bringen, das ist ziemlich gefährlich. Schlechter Text, langweilige Story, schlechte Musik, schwache Sänger, schlechtes Licht - es darf überhaupt keine Schwachstellen geben. Oder was ist wichtiger, eine Flöte oder eine Geige? Wichtig ist, dass alles mit derselben Sorgfalt behandelt wird.

EL: Welche Themen kann das Musiktheater Ihrer Meinung nach besser behandeln als andere Formen des Theaters?

KT: Ich habe mir diese Frage oft gestellt. Mir sagte einmal jemand, wirklich ungeeignet für einen Opernstoff sei die Szenerie im Krankenhaus. Darauf schrieb ich ein Opernlibretto, das im Krankenhaus spielt, um zu überprüfen, ob das wirklich stimmte. Und es hat gut funktioniert. Tatsächlich ist alles, was die Menschen im Alltag berührt, für Musiktheater gut geeignet. Sobald es einen Interessenskonflikt in einer Geschichte gibt, kann jede der beteiligten Figuren für ihre Wahrheit kämpfen. Und das ist eine Voraussetzung für einen guten Opernstoff.

EL: Sie haben in ihren letzten Produktionen politisch brisante Themen behandelt. Was interessiert Sie an solchen Geschichten?

KT: Ich glaube nicht, dass politisch aktuelle Geschichten per se geeignet sind für eine Oper. Aber sie spiegeln auch universelle Probleme wider. Eine unserer letzten "politischen" Produktionen ist beispielsweise die Oper "Chodorkowski" (Musik von Periklis Liakakis). Der ewige Konflikt zwischen Geld und Macht steht im Vordergrund dieser Geschichte. Für eine politische Stellungnahme oder eine Realsatire braucht man nicht unbedingt die Oper, aber im politischen Leben von heute finden Sie unglaubliche Szenen, da wird von Tod und Leben gesprochen, und das sind Opernthemen.

JE: Die Geschichte der politischen Oper beginnt mit der Französischen Revolution. Beethoven hat hier ein starkes Signal gesetzt, das geht dann weiter bis etwa Kurt Weill oder Luigi Nono. Grundsätzlich ist die politische Komponente aber selten Selbstzweck, das ist Agitprop. Jedenfalls glaube ich - vielleicht im Gegensatz zu Beethoven - nicht, dass wir heute eine Oper schaffen werden, nach der die Welt sich tatsächlich verändern wird.

KT: Ja, einerseits sollten sich Künstler wirklich nicht vormachen, dass ihre Kunst die Welt verändern wird. Aber andererseits können sie im Laufe der Zeit die Stimmungen und Einstellungen der Gesellschaft beeinflussen, und ich denke, dass viele Kunstwerke dabei eine wichtige Rolle gespielt haben.

EL: Sie teilen also Schillers Ansicht vom Theater als "moralischer Anstalt"? Ist es heute möglich, von der Theaterbühne her ohne Ironie an Barmherzigkeit und eine bessere Welt zu appellieren?

KT: Ja, das ist zweifelsohne eine Utopie. Und ohne Utopien wollen wir nicht leben. Wir verbessern die Welt zuersteinmal atmosphärisch bei uns im Theater, mit diesen so verschiedenen Arbeitsbeziehungen zwischen Musikern, Sängern und allen anderen Theatermitarbeitern. Alles wir tun verbessert oder verschlechtert die Welt, immer.

JE: Was den Namen des Festivals "Die Verbesserung der Welt" betrifft, denke ich, dass wir ziemlich ironisch sind. Wer das nicht versteht, dem ist nicht mehr zu helfen. Natürlich erwarten wir von dieser Weltverbesserung keine sofortige Wirkung im Sinne des Begriffs, aber jede kreative Aktivität wie diese geht in diese Richtung und ist prinzipiell eine Verbesserung der Welt.

EL: Wie suchen Sie Ihre Librettisten und Komponisten?

JE: Es ist uns wichtig, eine Plattform für eine Vielzahl von Autoren bereitzustellen. Wir sind nicht sehr interessiert an der Diskussion darüber, was moderne Musik ist und was nicht. Grundsätzlich spiegelt die Musik, die heute geschrieben wird, unsere Zeit wider. Es gibt gute und schlechte Musik, aber keine gute und schlechte Richtung. Und wir möchten eine Vielzahl von Beispielen vorstellen: Männer, Frauen, junge, erfahrene, bekannte und weniger bekannte Autoren, Anfänger und alte Hasen. Natürlich kennen wir viele Komponistinnen und Komponisten, und wenn eine Idee reift, beginnen wir darüber nachzudenken, wen das interessieren könnte. Wir machen aber nicht mehr den Fehler, Komponisten eine Auswahl von Themen oder Libretti zu geben. Das ist nicht immer gut für die Sache. Die Vorgaben kommen immer von uns.

KT: Aber wenn Sie die Komponisten gut kennen, können Sie sich auch vorstellen, welcher Komponist für welches Stück interessant sein könnte. Ich würde sagen, dass diesmal fast alle mit unserer Wahl zufrieden waren.

EL: Gibt es Überraschungen beim Endergebnis?

JE: Jedes Stück ist immer eine Menge Arbeit, einige der Partituren überraschen uns natürlich sehr, andere sind wie erwartet, aber alle sind auf verschiedene Weisen eine Annäherung an das Thema. Wir haben natürlich keine stilistischen Vorgaben für die Komponisten, außer dass wir sie meist bitten, aus dem Stück nicht das totale Experiment zu machen, sondern allen anderen beteiligten Künstlern auch Freiräume zu lassen. Das ist ein ziemlich komplexes Thema.

EL: Aber was ist, wenn Sie eine Musik in Auftrag geben und mit dem Ergebnis völlig unzufrieden sind?

JE: In unserer Praxis gab es tatsächlich einen solchen Fall. Tatsächlich sollte erst das Publikum die Arbeit bewerten, wir versuchen, alles umzusetzen. Die ersten, die einen Auftrag bekommen, sind aber die Autoren der Libretti. Wenn dann die Komponisten mit den Librettisten in gutem Einverständnis arbeiten, gelingt die Sachen meistens.

KT: Es gibt ganz verschiedene Beispiele für diese Zusammenarbeit: Dieter Kaufmann hat im Libretto kein Wort geändert, Alexander Wagendristel nahm bereits in der Produktionsphase einige Änderungen vor, mit Julia Purgina, die eine Oper nach meinem Libretto schrieb, hatte ich eine sehr intensive Diskussion, die sich auf rein praktische Fragen bezog - ist zum Beispiel an dieser Stelle ein Zwischenspiel erforderlich, in dem der Text gekürzt werden oder im Gegenteil erweitert werden muss, ob es möglich ist, das rhythmische Muster des Textes unter einer Melodie zu ändern und so weiter.

JE: Oft ist das eine Diskussion über das Ende der Geschichte. In Gerhard Winklers Oper "Der Fremde" sollte Martin Horváth den letzten Arientext in Farsi schreiben.

EL: In der Oper "Der Durst der Hyäne", die im Kongo spielt, sind alle Solisten dunkelhäutig.  Wie haben Sie in Wien diese schwarzen Sänger gefunden und haben Sie mit ihnen über die Ironie gesprochen, verstanden sie die Idee einer komischen Oper über afrikanische Schamanen?

KT: Der Heiler, der im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, ist in der Tat nicht so sehr ein Zauberer als vielmehr ein Vermittler. Owen Metsileng, der ihn spielte, kommt aus einem Dorf in Südafrika, und er sagte, es sei typisch für eine europäische Herangehensweise an das Problem. Der Heiler kann nämlich tatsächlich zaubern! Und alles, was wir jetzt auf der Bühne sehen konnten, die Rituale des Heilers, die Zauberriten sind keine Parodien, sondern eine präzise Umsetzung der Realität, wie Owen sie erlebt hat. Er ist ein grossartiger Schauspieler und er weiss, dass das komisch ist, und er ist sich der wichtigen Rolle des Zauberers in einer traditionellen Gesellschaft bewusst.

JE: Alle Sänger, die wir gefunden haben, leben in Europa, Bibiana Nwobilo zum Beispiel wurde in Nigeria geboren, ist aber in Österreich aufgewachsen und hat einen wunderbaren Kärntner Dialekt in der Stimme. Tye Maurice Thomas ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Die anderen leben seit vielen Jahren in der Schweiz, in England und in Deutschland. Ursprünglich wollten wir Solisten aus Südafrika einladen, wo es fantastische Sänger gibt, aber all dies wurde aufgrund von Corona unmöglich .

EL: Wenn wir jetzt über die Solisten sprechen, wie ist Ihre Erfahrung: viele Sänger nehmen an Produktionen zeitgenössischer Opern teil, studieren schwierige Partituren und nutzen auch die gute Gelegenheit, sich damit zu präsentieren und ihre Stimmen zu zeigen. Denken die heutigen Komponisten daran und schreiben sie auch für Stimmen?

KT: Nicht alle, leider. Manche denken nicht zuerst daran, und das ist meiner Meinung nach ein grosser Fehler. Es ist aber auch ein Fehler, quasi nur ein ewiges Rezitativ zu schreiben. Ich schaue bei einem Libretto vor allem darauf, ob es Arien-Texte hat, das freut dann am Ende natürlich die Sänger. Wenn Sie schauen, in der Oper "Amerika oder die Infektion" von Matthias Kranebitter sind die Gesangspartien sehr schwer zu singen. Ausserdem müssen die Sänger ständig zählen und genau aufpassen, ein kurzer Einwurf, dann einige schwierig zu zählende Takte lang Pause und ein weiterer kurzer Einwurf - das erfordert dann eine ziemliche Konzentration, die vom Bild und der Bühne mitunter auch ablenken kann. Das ist natürlich schade.

EL: Wie würden Sie Ihr Publikum beschreiben? Ist es dasselbe Publikum, dass auch Tickets für Jonas Kaufmann und Anna Netrebko kauft?

JE: Ehrlich gesagt haben wir uns nie detaillierter damit beschäftigt. Sowohl als auch, glaube ich. Interessanterweise hatten wir bei diesem Festival viel Besuch aus der Umgegend. Nach der Oper "Elsa" von Margareta Ferek-Petric zum Beispiel wurde ich von zwei Besuchern angesprochen, die sich bedanken wollten für das tolle Erlebnis, sie wohnen zwei Strassen weiter und waren zum ersten Mal in einer Oper. Und das war dann gleich eine pornographische Oper...

KT: Ich hatte viele Begegnungen und Gespräche mit Zuschauern, die mir nach einer Aufführung gesagt haben, es sei erstaunlich, man müsse sich ja gar nicht so sehr vor der neuen Oper fürchten. Eine grosse Rolle vor allem für die diejenigen, die noch wenig erfahren im Hören von zeitgenössischer Musik haben, spielt die Geschichte, die erzählt wird. Die Oper ist eine ganz hervorragende Botschafterin der neuen Musik, wenn man der Geschichte gut folgen kann.

EL: Ich möchte noch kurz etwas fragen zum Netzwerk der Freien Musiktheater Wiens, das von Ihnen 2011 gegründet wurde und an dem sich tatsächlich beinahe alle Freien Musiktheatergruppen in Wien beteiligen, darunter auch sirene. Was sind die Absichten und Ziele dieser Initiative und was konnten Sie damit erreichen?

JE: Diese Initiative ist damals entstanden, als die Wiener Kammeroper dem Theater an der Wien angegliedert wurde. Der damalige Stadtrat liess veröffentlichen, in der Kammeroper werde auch die Freie Szene beteiligt, wo ein "Vertreter" dieser Szene jährlich eine oder zwei Produktionen zeigen könne. Dieser "Vertreter" wurde auch gleich benannt. Das sorgte für viel Überraschung, die Kollegen und wir haben ja nicht genau verstanden, warum gerade er uns "vertreten" würde, wenn wir davon bis dahin nicht einmal etwas wussten. So haben sich alle Vertreter von Musiktheatergruppen, die nicht eingeladen wurden, sich in der Kammeroper zu präsentieren, zusammengefunden, um diese Freie Szene tatsächlich einmal zu bilden. Natürlich kannten wir uns alle und beobachteten die Arbeit der anderen genau. Wir hatten eine Pressekonferenz und stellten dann bald fest, dass in Zeiten von Budgetkürzungen und anderen bürokratischen Schwierigkeiten eine Zusammenarbeit durchaus viele Vorteile hat, organisatorisch, materiell und auch politisch. Die ewige Befürchtung, dass der andere auch ein Konkurrent um Ressourcen sei, trat damit zum Glück in den Hintergrund. Wir erhalten eine tolle Unterstützung von der Stadt. Ich bin in Berlin aufgewachsen und es gibt dort genauso viele ausgezeichnete Musiktheater, aber die staatliche Unterstützung ist dort um ein Vielfaches geringer. Obwohl die Stadt natürlich grösser ist! Wien ist in diesem Sinne optimal: es passiert auch sehr viel, aber gleichzeitig kennt jeder jeden. Was das Publikum betrifft, hat es in Wien ziemlich hohe Erwartungen, da es oft in die Oper geht und sich damit eigentlich gut auskennt. Das heisst, es ist überhaupt nicht leicht, es in die Irre zu führen. Obwohl zu meinem Bedauern die hitzige intellektuelle Debatte über das Schicksal des neuen Musiktheaters vorbei ist, wo man immer gesagt hat, das sei richtig und das sei falsch. Statt falsch und richtig gibt es jetzt wieder schlecht und gut, und die neue Oper hat ein gutes Publikum, dem sie auch einfach gefällt.

EL: Und die letzte Frage: Warum steht im Programm des Festivals kein Opernkomponist Jury Everhartz?

JE: Es macht mir eine grosse Freude, Musik zu schreiben. Das ist ein glücklicher Zustand, in dem man aber etliche Zeit sehr mit sich alleine sein muss. Das ist nicht der richtige Modus, wenn man ein solches Festival zu organisieren hat. Aber für mich ist jede Arbeit an einem Opernprojekt spannend, und man darf ja nicht damit anfangen, alles nur selber zu machen.

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