Falter, 21.11.2023, Miriam Damev (pdf)

Uraufführung von Schwertsik bei Wien Modern:„Sorg dich nicht, ob es gefällt“

Mond-Lichtung und Baumgesang, Schrumpf-Symphonie und Kasperlmusik, Möbelmusik und Katzlmacher – die Titel von Kurt Schwertsiks Stücken klingen wie die Musik des Komponisten: doppelbödig und originell, skurril und ironisch, zart und aufbrausend. 1935 in Wien geboren, gehört Schwertsik zu den Pionieren der Neuen Musik in Österreich. Er lernte bei den Avantgardisten Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen, war mit John Cage befreundet, komponierte eine Zeit lang atonal und wandte sich Anfang der 1960er-Jahre wieder der Tonalität zu – ein mutiger Akt in Zeiten, wo selbst eine Oktave als Sakrileg galt.

In seinem jüngsten Werk beschäftigt sich der 88-Jährige mit Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Im Auftrag des Serapions Theaters und des sirene Operntheaters entstand „Alice. Eine phantastische Revue“ für Schauspieler, Sänger, Tänzer und Musiker, die am Freitag im Rahmen von Wien Modern uraufgeführt wird.

Das Gespräch findet in Penzing statt, wo Kurt Schwertsik gemeinsam mit seiner Frau Christa in einem Biedermeierhaus lebt. Die Wohnung besteht aus vielen kleinen, liebevoll eingerichteten Räumen; an den Wänden hängen Gemälde, Textilien und Fotografien. An der Badezimmertür klebt ein Plakat, auf dem der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt zu sehen ist. „Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität“ steht darauf geschrieben – „einer meiner Grundsätze“, sagt Schwertsik und schmunzelt. Im Wintergarten nimmt Schwertsik ein altes Lederamulett von der Wand und hängt es sich um den Hals. „Ich habe es vor über 50 Jahren in einem kleinen Laden in der Innenstadt gekauft und während der Hippie-Zeit ständig getragen. Eigentlich war ich gar kein Hippie. Aber ich habe mich gerne so angezogen.“

Aufgewachsen ist Kurt Schwertsik in der Lerchengasse, einem „guten Bürgerhaus“ zwischen Josefstädter und Lerchenfelder Straße. Der Vater kam ursprünglich aus Böhmen, die Mutter wurde in London geboren und gelangte über Umwege nach Wien, wo sie zur Schneiderin ausgebildet wurde und 1930 ihren Mann, einen Zuschneider, heiratete. Acht Jahre später wurde Schwertsiks Vater in die Armee des „ihm so verhassten Naziregimes“ eingezogen. 1944 kam er an die Ostfront und kehrte von dort nie wieder zurück. Zum sechsten Geburtstag nahm die Mutter ihren Sohn mit in die Volksoper. Verzaubert von der Bühne und der Musik, beschloss er noch am selben Abend, Klavier zu lernen – ein folgenschwerer Wunsch, wie Schwertsik sagt. „Ich war eigentlich schon immer zu faul zum Üben. Viel lieber bin ich ins Kino gegangen und habe mir die Filme mit Hans Moser
und Theo Lingen angeschaut.“ Die ironische Sentimentalität des Wienerlieds wird Schwertsik später in seine Werke einfließen lassen. Dazu kamen Opern- und Operettenmelodien von Puccini und Lehár, die seine Mutter während der Arbeit vor sich hinsummte. „Von ihr habe ich die musikalische Basis bekommen, aber nicht nur. Als brennende Antifaschistin hat sie mich Toleranz und Achtung gelehrt, wofür ich ihr bis heute sehr dankbar bin.“

Nach dem Krieg wurde Schwertsik Stammgast auf den Stehplätzen im Theater an der Wien. Mit 15 kam er an die Musikakademie, wo er Komposition und später Horn studierte. Beflügelt von der Aufbruchsstimmung der Nachkriegsjahre, stürzte er sich ins Wiener Kulturleben und suchte die Gesellschaft von gleichgesinnten Künstlern wie Ernst Fuchs oder Hermann Nitsch. Er begeisterte sich für den Dadaismus, liebäugelte mit dem Marxismus. „Nur mit dem Komponieren kam ich nicht weiter. Ich habe damals mit meiner ersten Frau in einer winzigen Wohnung gelebt. Als unsere Tochter geboren wurde, bin ich als Hornist zum Tonkünstlerorchester gegangen, weil ich Geld verdienen musste.“ Zum Initiationsritus moderner Musik geriet ein Konzert mit Strawinskys „Le Sacre du printemps“, das Kurt Schwertsik als Student im Musikverein besuchte. Er war überwältigt von den harten Rhythmen und archaischen Melodien – und entsetzt von den Reaktionen des Publikums. „Manche haben gelacht, andere haben den Saal türknallend verlassen. Einer hat sogar gerufen ‚Es lebe die Gummizelle‘. Ich fand das fürchterlich überheblich und habe mir das Konzert aus Protest am nächsten Tag noch einmal angehört.“

Nach mehreren Aufenthalten bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und einigen atonalen Gehversuchen begann Schwertsik schließlich wieder, mit Dreiklängen zu experimentieren. 1962 entstanden die „Liebesträume“, für die der Komponist eine Version der gleichnamigen Klavierstücke von Franz Liszt nach dem Zufallsprinzip zerschnitt und anschließend gegen den harmonischen Strich wieder zusammensetzte. „Die Aufführung fand in einem Schuppen in Darmstadt statt, und die Leute haben mit Papierkugeln auf mich geschossen.“ Entgegen Schwertsiks Erwartungen wurden die „Liebesträume“ ein Riesenerfolg: „Stockhausen hat mir während des Applauses ein Stück Zucker zugeworfen, auf dem stand ‚Bitte beehren Sie uns bald wieder‘ – eines der schönsten Komplimente, das ich je bekommen habe.“

Ob als Komponist, Dirigent und Instrumentalist, als Ensemblegründer und Konzertveranstalter, Lehrer und Dichter – Kurt Schwertsik hat sich nie von Dogmatismen vereinnahmen lassen. „Ich schreibe die Musik, die ich am liebsten selbst hören möchte“, sagt er. Sein Credo hielt er in einem Gedicht aus den frühen 1990er-Jahren fest: „Der Phantasie lass freien Lauf und sorg dich nicht, ob es gefällt: Du bist alleine in deiner Welt“.

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