Tageszeitung Junge Welt, 29.11.2023, Barbara Eder

Auf Uhren schießen: »Alice. Eine phantastische Revue«:
Für das Festival Wien Modern arrangiert das sirene Operntheater Szenen aus Lewis Carrolls Klassiker

»You’re nothing than paper«: Kristine Tornquists Spielfiguren wirken nicht wie die Automaten des Informationszeitalters

Szene eins beginnt mit dem Maßnehmen: Auf einem spärlich beleuchteten Rondell im Wiener Odeon-Theater wird Lewis Carrolls »Alice« neu vermessen. Sechs Kopisten mit Pagenköpfen skizzieren die Umrisse der von Ana Grigalashvili verkörperten Figur, die 1864 erstmals für Aufregung sorgte. Der Versuch, von ihrem Wunderland ein Abbild zu erstellen, war früh zum Scheitern verurteilt: In der zweibändigen »Alice«-Erzählung gibt es keine stabilen Größen, nur fortlaufende Umbrüche; halb wachend, halb träumend gerät auch die von Kristine Tornquist für die Bühne adaptierte Alice in ein Spiel hinein, dem anfangs keine Grenzen gesetzt sind. Im Verlauf von 26 szenischen Tableaus wird sie wachsen und schrumpfen, unvorhersehbaren Metamorphosen und spontanen Wandlungen unterworfen sein. Die Komposition von Kurt Schwertsik gibt dafür den Ton an – in geometrisch klaren Formen, die auf allfällige Umschweife und unnötige Einschübe verzichtet.

Kristine Tornquists in Kooperation mit Jury Everhartz inszeniertes Stück Musiktheater gibt sich nicht naiv und ist sich seiner formalen Mittel bewusst. Die Metatexte zum vermeintlichen Kinderspiel laufen ungeschrieben mit – abseits des schwarzen Screens am oberen Bühnenrand, der die deutschen Untertitel zum englischen Original einblendet. Gekleidet ist Carrolls Personal diesmal in papierene Gewänder, ähnlich jenen von Oskar Schlemmers mechanischem Ballett. Der dezente Rekurs auf die Neue Sachlichkeit gibt sich blütenweiß: Er bringt keine Verhältnisse zum Tanzen, sorgt statt dessen nur für genormte Anordnungen im Raum. Koregisseur Max Kaufmann markiert damit imaginäre Begrenzungen: Seine Spiegel sind blinde Leinwände, Spielkarten und Königin nicht mehr als Quadrate auf zwei Beinen. Im von Mirjam Mercedes Salzer konzipierten Origami-Outfit erscheinen Tweedledee und Tweedledum als tanzende Lampions mit zwillingsgleichem Äußeren. »Es gibt niemanden, der mehr von Logik versteht als wir«, gaben die Repräsentanten der symmetrischen Beziehungen bei Carroll zu verstehen; ihr Erscheinen wird Alice bis zuletzt Rätsel aufgeben.

»Alice im Wunderland« ist kein Kinderbuch, es ist eine chiffrierte Abhandlung über mehrwertige Logik. Ihr Autor hieß nicht nur Lewis Carroll, sondern auch Charles Lutwidge Dodgson (Carrolls bürgerlicher Name), mehr als ein Vierteljahrhundert als Tutor für Mathematik am Christ Church College in Oxford tätig. Im Land hinter den Spiegeln schrieb er mehrere Bücher und einige Lehrbehelfe, sein 1896 erschienenes Handbuch mit dem Titel »Das Spiel der Logik« bildet das Fundament für die Alice-Erzählung. Bereits auf den ersten Seiten des schmalen Bandes lädt Dodgson seine Leserinnen zu einem paradoxen Spiel: Jeder Mitspieler erhält zwei Steine, einer davon rot, der andere grau. Grau steht für ein leeres Feld und damit für die Abwesenheit eines Objekts, Rot hingegen bezeichnet, dass sich an einer Stelle etwas befindet. Dodgson spricht den Spielsteinen unterschiedliche Attribute zu oder ab, was zu sinnwidrigen und zugleich höchst konzisen logischen Aussagen führt: Alle, die sich auf der yx-Achse eines geometrischen Quadrats befinden, sind neu und nett; jene, die im Feld xy liegen, sind zwar neu, aber nicht-nett; anordnen lassen sich die Elemente auch in vertikaler Abfolge. Dann sind alle in dieser Weise bezeichneten Objekte nett, zugleich können sie jedoch auch in neuer oder nicht-neuer Form existieren.

In »Das Spiel der Logik« stellt Dodgson logische Formalismen plastisch dar, sein Feld ist das des zweidimensionalen Koordinatensystems. Auf der Bühne des Odeon-Theaters ist das Quadrat des Ausgangstextes einer Scheibe gewichen, die sich nicht nur im Uhrzeigersinn dreht. Die Musiker des »Serapions Ensemble« geben den Takt für mögliche Bewegungen vor, menschliche Sekundenzeiger bevölkern das volatile Rund. Von den Klöppelschlägen der Schlagwerker angetrieben, bewegen sie sich nicht nur voran, sondern auch in der Zeit zurück. Carrolls »Modern Times« scheinen der stoischen Logik eines Ereignisses zu folgen: Als Künftiges ist es immer schon vergangen, über das noch nicht und doch schon Geschehene lässt sich stets mehr und zugleich weniger sagen. Revolution heißt auch hier: auf Uhren schießen – und die Vorkehrungen in den Apparaten sabotieren. Kristine Tornquists Spielfiguren wirken nicht wie die Automaten des Informationszeitalters, vom Fortschritt halten sie offenbar nicht viel. In das englische Teehaus hat die Geschäftigkeit des Manchesterkapitalismus noch keinen Einzug gehalten: Hutmacher, Hase und Haselmaus zählen dort nicht in Stunden, sondern in Tagen – ihre Teatime ist täglich um sechs Uhr abends.

Dodgsons Logikspiele kann nur gewinnen, wer mit variablen Größen zu rechnen weiß. Die Inszenierung des sirene Operntheaters besticht durch einen anderen Überraschungseffekt: Alice wirft gegen Ende des Stücks noch einmal alle Prämissen über Bord, ihre Wirklichkeit erscheint auf wundersame Weise »queer«; sie rebelliert gegen das ihr aufgezwungene Regelwerk – und gewinnt sich selbst. »You’re nothing than paper«, sagt Alice kurz vor der Abblende zu ihren Mitspielern. Dann entweichen die Körper der Herrschenden den papierenen Rüstungen, die als leere Hüllen am Bühnenrand zurückbleiben. Am Ende lacht Alice, Autorin; ihre Papierbögen zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen.

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