Volksstimme 39, November 2023, Eva Brenner im Gespräch mit Kristine Tornquist

Theatrale Wunderboxen als politische Opern

Ein Gespräch mit Regisseurin Kristine Tornquist über das Wiener sirene Operntheater. Von Eva Brenner

Ende September wurde die zeitgenössische Oper Miameide der österreichischen Künstlerin Kristine Tornquist im Jugendstiltheater Wien uraufgeführt. Die junge Komponistin Julia Purgina hat die Musik zum Libretto von Tornquist geschrieben, Antanina Kalechyts dirigierte die Solisten des sirene Operntheaters sowie die Ensembles PHACE und Momentum Vocal Music.

Raum für Utopie

Miameide, Die stillen Schwestern ist eine Oper über Pflanzen, in der die Musik dominiert und die sparsamen Texte, die das märchenhafte Bühnengeschehen in Gang setzen, intensiv durchdringt. Sie macht botanische Strukturen und das fraktale Wachstumsgebot der Pflanzen nachempfindbar, will das »Unerhörte«, Nichtmenschliche zu Gehör bringen. Dazu trägt ein ausgeklügelter bunter Trickfilm, projiziert auf eine Tüllwand zwischen Orchester und Publikum, die beeindruckenden Visionen bei. Er zaubert das Leben der Pflanzen, die stetigen Bewegungen der Blätter, Blüten und Wurzeln ins Bild. Die wissenschaftliche Vortragsreihe Expedition Grün bemühte sich jeweils vor den Vorstellungen um die Vermittlung aktuellen Wissens zum Thema Pflanzen und positive Utopien.

Das unbetretene Terrain ihrer ans Herz rührenden, leisen, aber inhaltlich gewaltig ausholenden Mini-Oper, die das Universum der Pflanzen ausmisst, fasst Tornquist in schlichten Worten zusammen: »Mia [Hauptfigur] kann die Sprache der Pflanzen verstehen. Doch für diese Fähigkeit findet sich in der Welt keine Verwendung. Am Arbeitsamt wird sie in Jobs vermittelt, in denen Pflanzen wie Objekte gehandelt werden. Aber sie taugt weder als Blumenverkäuferin, noch in der Großgärtnerei, wohin sie auch kommt, immer versteht sie zu viel von den Bedürfnissen der Pflanzen. Als sie begreift, dass in der Menschenwelt kein Platz mehr für die ist, die hören können, flüchtet sie in ein anderes Dasein. Auch wenn wir sie nicht hören können, sind die stillen Schwestern nicht stumm. Ihre Sprache ist das Wachstum, ihr unaufhörliches Entfalten, Vermehren, Verzweigen und Differenzieren ist ihre Erzählung von der Überwindung der Entropie.«

Eva Brenner: Was war deine Grundidee? Wie bist du ans Schreiben herangegangen?

Kristine Tornquist: Nach Jahren großer Produktionen – z. B. machten wir im Jahr 2020 gleich sieben Opern zum Thema »Verbesserung der Welt« – wollte ich ein kammerspielartiges Werk schaffen. Die Welt der Pflanzen war für mich wie das Eintauchen in eine fremde, ja philosophische Welt.

Eva Brenner: Geht es dir dabei um Klimaschutz?

Kristine Tornquist: Nein. Das war unterschwellig vorhanden, aber ich drücke nicht den Daumen auf Themen! Das Libretto stellt die absurde Kombination der beinahe märchenhaften Geschichte eines Mädchens, das die Sprache der Pflanzen versteht, mit meinen persönlichen Erfahrungen als Bittstellerin beim AMS dar.

Eva Brenner: Worin liegt der philosophische Kontext?

Kristine Tornquist: Die Menschheit ist ein relativ kurzes geschichtliches Phänomen. Pflanzen sind die vergessenen Schwestern der Tiere und Menschen, man übersieht sie am leichtesten. Dabei sind sie der Grund des Lebens, denn wir sind alle Kinder des Waldes. In animistischen Kulturen hat jedes Lebewesen die Fähigkeit, sich stofflich in ein anderes, z. B. in eine Pflanze zu verwandeln, viele Schöpfungsmythen stellen einen Weltenbaum an den Beginn; so heißt dieser in der nordischen Edda Miameide. Es ist schade, dass bei uns seit der Nazizeit die nordischen Mythen verpönt sind.

Eva Brenner: Das Projekt impliziert Kritik. Was ist dein Einwand gegen die »Moderne« der Aufklärung?

Kristine Tornquist: Die europäische Philosophie hat sich im Gleichschritt mit dem Monotheismus sukzessive von den stillen Schwestern distanziert. Die Aufklärung degradierte zuerst die Pflanzen, dann die Tiere und zuletzt den Menschen, je nach Maßgabe der Verwertbarkeit.

Eva Brenner: Besteht darin deine Kapitalismuskritik?

Kristine Tornquist: Das kann man so sehen. Meiner Ansicht nach betrachtet der anthropozentrische Blick die Pflanzen. Die Menschheit ist ein relativ kurzes geschichtliches Phänomen. Pflanzen sind die vergessenen Schwestern der Tiere und Menschen, man übersieht sie am leichtesten als das Proletariat des Lebens. Der Kapitalismus exekutiert diese Philosophie beispielhaft.

Eva Brenner: Was war der konkrete Anlass für das Projekt?

Kristine Tornquist: Das Libretto ist im langen Lockdown 2021 entstanden, wo ich mich erstmals der Lektüre der Botanik widmete. Das drückte meine Sehnsucht nach dem Frühling aus – im Zeitraffer konnte ich die zauberhaften Bewegungen der Gewächse sehen und nachempfinden lernen, wie sie leben, atmen, fühlen, sprechen. Das hat auch die Komponistin begeistert, die sich diesen Text aussuchte, weil er viel Platz für Musik bietet.

Eva Brenner: Wie kam das AMS– eine völlig konträres Thema – in das Stück?

Kristine Tornquist: Ich wollte den Zusammenhang zum eigenen Leben herstellen. In dieser Zeit war ich arbeitslos und erlebte schmerzlich die Entfremdung durch die elektronischen Begegnungen mit meiner Beraterin am Arbeitsamt. Ich musste erfahren, dass ich als nicht-nützliches Wesen keinen Wert mehr hatte – ähnlich wie ein Baum, der im Weg steht. Da werden Menschen oft so achtlos behandelt, wie das, was wir den Pflanzen antun. Im Kontrast dazu setzt sich Miameide mit dem Erwachen aus der Pflanzenblindheit und dem Staunen über die Existenz des Lebens auseinander.

Eva Brenner: Wie steht der Text in Bezug zur Musik und der eindrücklichen visuellen Ebene?

Kristine Tornquist: Es gibt erstaunlich wenig Text, die Musik drückt viel von der Sprache der Tiere aus, die Videos finde ich sehr wichtig und gelungen, sie artikulieren das Wachsen und Werden, das Absterben und Wiedergeborenwerden der Pflanzen – als auch von uns Menschen. Sie haben Persönlichkeit.

Eva Brenner: Was ist euer nächstes Projekt?

Kristine Tornquist: Wir bereiten uns auf die Oper Alice im Odeon Theater vor, eine Fassung von Alice im Wunderland in der Vertonung von Kurt Schwertsik; es dirigiert François-Pierre Descamps. Die Geschichte habe ich als Kind geliebt – wiederum geht es um Liebe, Fantasie, Macht und Utopie. Alice, die alle Normen sprengt, sich gegen die Fehler der Erwachsenenwelt auflehnt – das ist sehr befreiend! Das traumhaft rasante Wechselspiel der Orte, Maßstäbe und Situationen führt über die Gesetze der Physik hinaus und transponiert Lewis Carrolls surreale Bilder in eine theatrale Wunderbox.

Eva Brenner: Zuletzt eine praktische Frage: Wie steht es um eure Förderungen? Kannst du als freie Opernschaffende von deiner Arbeit – außerhalb einer Pandemiezeit – leben?

Kristine Tornquist: Ja, derzeit schon, aber das war nicht immer so! Wir sind unter den glücklichen Empfängern
einer Vierjahresförderung der Stadt Wien, dazu kommt Geld vom Bund und privaten Sponsoren, auch Kooperationen, wie z. B. mit Wien Modern, helfen uns. Zeitgenössische Oper hat in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen, was uns auszeichnet ist das, was ich eine Ästhetik der »versteckten Avantgarde« nenne, eine sanfte Avantgarde ohne schrille Effekte und Marketinghype. Bei uns zählt die Fantasie, der Mensch, die Geschichte. Das wird bisweilen als »altmodisch« hingestellt, jedoch bin ich überzeugt, dass das Geschichtenerzählen zurückkommt; die Menschen haben genug von (post)moderner Dekonstruktion und entfremdender Abstraktion.

Eva Brenner: Was genau meint »versteckte Avantgarde«?

Kristine Tornquist: Ich meine, man muss nicht ständig neue Formen erfinden, dieser Zwang ist zum Selbstläufer geworden. Parolen-Schwingen hat mit Theater nichts zu tun! Wir sehen heute, dass sich das Theater zurückbesinnt auf Geschichten; man will wieder Zusammenhänge erkennen, sich auf Inhalte konzentrieren, auf Wissen, Analyse. Das ist eine Kompetenz, die wir uns erworben haben.

Eva Brenner: Das politische Theater seit 1968 hat darum gekämpft, das Theater mit der äußeren Welt, der eigenen Realität der Künstlerin oder des Künstlers und aktuellen sozialen Bewegungen in Dialog zu bringen, die Welt kritisch zu analysieren und neu darzustellen – und ein neues Publikum zu gewinnen.

Kristine Tornquist: Ich sehe meine Arbeit als politisch, wir arbeiten seit Jahren mit sozialkritischen Themen. Das Ziel ist, die zeitgenössische Oper für viele Menschen interessant zu machen, die mit der Disziplin nichts zu tun haben. In den letzten zehn Jahren haben wir Opern über Krieg gemacht, über Organhandel, Asyl und Vertreibung, über Putin oder den Kongo. Politisches Theater ist für mich keine Headline! Ich möchte eine gute Geschichte erzählen, eine qualitativ hochwertige ästhetische Umsetzung bieten, wenn auch mit einfachen Mitteln. Und ich will unterhalten!

Das sirene Operntheater ist ein im Jahr 1998 von der bildenden Künstlerin, Autorin, Librettistin und Opernregisseurin Kristine Tornquist gemeinsam mit ihrem Mann, dem Komponisten und Dirigenten Jury Everhartz, gegründetes Ensemble für zeitgenössisches Musiktheater, das die beiden seither erfolgreich leiten. Über die Jahre haben die beiden ein eigenes Format entwickelt, sogenannte »Operellen«, Kurz- oder Kammeropern. Diese zeichnen sich aus durch Einfachheit, Effizienz und Serienproduktion und transportieren trotz minimalistischer Einfachheit mehrdeutige, unauflösbare moralisch-politische Botschaften. Oper soll als zeitgenössische Kunstform für alle mit gesellschaftlich relevanten Themen unter die Leute gebracht werden. Aus der Symbiose von Text und Musik sind bei sirene mittlerweile 38 Projektreihen mit 83 Musiktheaterwerken entstanden, die dank langfristiger Förderung der Stadt Wien ein waches und wachsendes Publikum finden. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Zusammenarbeit mit österreichischen Komponist*innen, Autor*innen und Künstler*innen (u.a. Thomas Arzt, Wolfgang Bauer, Johanna Doderer, Barbara Frischmuth, Daniel Glattauer, Dieter Kaufmann, Händl Klaus, Bernhard Lang, Friederike Mayröcker).

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